Wenn’s mal nicht ums Klima geht, ist Digitalisierung überall. Zumindest gefühlt. Sie verändert alles, braucht neue Infrastrukturen, bedroht Arbeitsplätze. Glaubt man Google Trends, ist sie inzwischen wichtiger als die Dauerbrenner „Industrie 4.0“, 5G Netzwerke und Künstliche Intelligenz.

Die Politik möchte uns daher digital integrieren, denn weniger als die Hälfte der Deutschen (42%) halten nach einer Studie des BMWi mit der digitalen Entwicklung Schritt. Gleichzeitig dokumentiert es auf seiner Webseite, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Chinesische Plattformen wie Tencent bei Umsatz, Gewinn, Beschäftigten und Marktkapitalisierung den DAX-Schwergewichten im Betrachtungszeitraum 2012-2016 in Riesenschritten enteilen.

Dennoch bleiben unsere Institutionen merkwürdig vage, wenn es um die konkrete Beschreibung dessen geht, was da passiert. Das Wirtschaftsministerium liefert sicherheitshalber gar keine Definition von Digitalisierung auf seinen Webseiten (zumindest kann man sie mit der zur Verfügung gestellten Suchfunktion nicht finden!) und auch die Europäische Kommission versucht es eher mit einer Beschreibung, nach der digitale Transformation „…characterised by a fusion of advanced technologies and the integration of physical and digital systems, the predominance of innovative business models and new processes…“ ist, um dann gleich hinzuzufügen „… EU Businesses are not taking full advantage of the advanced technologies or the innovative business models…“. Schade.

Kein Wunder also, dass 58% der von Celonis befragten Führungskräfte nicht wissen, wo sie bei der Entwicklung einer passenden Strategie ansetzen sollen (Handelsblatt 22.3.2019). Wenn dann auch noch das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in seiner Studie zu digitaler Innovation im Mittelstand feststellt „…dass klassisches deutsches Ingenieursdenken und Digitalisierung nicht (immer) zusammenpassen…“ ist es dringend Zeit, sich mit Digitalisierung jenseits von Schlagworten befassen.

Digitalisierung endlich verstehen

Der erste Schritt dazu wäre, das Phänomen „Digitalisierung“ erst einmal konkreter zu beschreiben.

Schaut man „Digitalisierung“ im digitalen Wörterbuch oder Internet nach, findet man den Ausgangspunkt: Die Umwandlung und das Verfügbar-Machen von analogen Daten wie z.B. Musikaufnahmen als MP3 Dateien oder das digitale Erfassen von Vertriebs- und Produktionsdaten in ERP Systemen.

Auf diese digitalen Daten kann Effizienz-Erhöhung durch Digitale Abbildung, Steuerung und Optimierung von Prozessen aufsetzen. Die viel beschworene Industrie 4.0 fällt in diese Kategorie. Die dadurch entstehende Wertschöpfung ist jedoch vielleicht für „alte“ Industrien interessant, skaliert aber nicht annähernd ausreichend, um die oben beschriebene Diskrepanz zwischen DAX und GAFA Unternehmen zu adressieren (siehe z.B. McKinsey Quarterly 2/2017).

Genuin digitale Geschäftsmodelle als nächste Ebene lösen Anwenderprobleme auf neue Art und schaffen Quantensprünge im Nutzen für Kunden und Anbieter – gelegentlich in Personalunion. Hierher gehören die viel diskutierten Plattformen, bei denen Anbieter und Konsumenten digital vermittelt zum gegenseitigen Nutzen direkt miteinander interagieren. GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon), BAT (Baidu, Alibaba, Tencent) und viele gerade heranwachsende Player machen uns im Westen und Osten vor, wie das geht.

Sie sind es auch, die längst auch mit der nächsten Stufe der Digitalisierung arbeiten, in der Nutzen für individuelle Anwender (und Anbieter) durch digitale Systeme autonom antizipiert wird. Künstliche Intelligenz erstellt dabei selbständig Angebote, Modelle oder Prozesse. Individualisierte Musikangebote von Spotify, KI-basierte Tomografie-Diagnostik von Siemens Healthineers oder die Betrugsverhinderung durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz bei Mastercard sind nur der Anfang.

Digitalisierung ist daher wohl am besten definiert als die kreative Anwendung digitaler Informations- und Kommunikationstechnik zur maximalen Erhöhung des Nutzens für Menschen und – erst in der Folge – Unternehmen.

Die digitale Technik an sich ist dabei nur ein äusserst vielseitiges und effektives Mittel zum Zweck.

Erst wenn wir aber endlich verstehen, dass es bei Digitalisierung nicht um Technik, sondern um das Lösen von menschlichen Problemen mit Hilfe dieser Technik geht, werden wir anfangen, die Digitalisierungs-Potenziale zu heben.

Wollen wir in Deutschland und Europa dabei mitspielen, müssen wir daher mindestens vier Dinge ändern:

Mindset erneuern

Statt das Internet als Paralleluniversum und Technologie-Entwicklung bereits als Wertschöpfung zu verstehen, sollten wir auch in Europa die Welt des 21. Jahrhunderts endlich als digital integriert wahrnehmen. Nicht umsonst titelte der „Economist“ vor einiger Zeit „Chips with Everything“. Digitale Technologien müssen als das begriffen werden, was sie sein können: noch nie dagewesene Problemlösung-Werkzeuge, die unvorstellbare Potenziale für Mensch und Wirtschaft erschliessen können. Die Technologie an sich spielt dabei – wie gesagt – nur eine Nebenrolle.

Adaptive Strategiemodelle verwenden

Digitalisierung braucht mehr Strategie (auf allen Ebenen!) – aber eine andere. Die klassische Trennung von Strategie und Ausführung funktioniert nicht mehr. Entstehende Potenziale sind häufig nicht mehr planbar. Die führende Kunden-Messaging Plattform Intercom entstand beispielsweise aus der Kommunikations-Komponente des Fehlerverfolgungs-Werkzeugs einer irischen IT-Beratung. Klare Vision und fokussierte strategische Initiativen, die beispielsweise mit Objectives und Key Results (OKRs) abgebildet und spätestens alle 90 Tage überprüft werden, stellen eine dynamische Strategieentwicklung sicher. Eine Vorgehensweise übrigens, die ihren Ursprung in der preussischen Auftragstaktik Helmut von Moltkes hat.

Arbeitsweise ändern

Digitalisierung erhöht die Unsicherheit. Diese Unsicherheit muss adressiert werden. Aber nicht über noch detailliertere Pläne, sondern über stabile iterativ-inkrementelle Umsetzungsmodelle mit maximalem Kundenfeedback. Kanban, Scrumban oder Scrum sind – richtig verstanden und implementiert – robust weit jenseits vom „new work“ PostIt-Schamanismus. Outcome-orientiertes Produktdenken muss Output-getriebenes Projektdenken und starre Pläne ersetzen.

Neue Werkzeuge verwenden

Digitale Wertschöpfung ist geprägt von der Maximierung des Anwendernutzens. Das industrielle Werkzeug-Inventar, das primär der Erhöhung der Prozesseffizienz dient, verliert in dem Mass an Bedeutung, mit dem der digitale Anteil an der Wertschöpfungskette wächst. Werkzeuge im digitalen Zeitalter verstehen Kundenbedürfnisse wissenschaftlich und datenbasiert. Sie ermöglichen es, Hypothesen zu möglichen Lösungen schnell zu entwickeln und die Lösungen direkt zu testen, um sie dann auf der Grundlage der Testergebnisse nötigenfalls anzupassen. So beschleunigen sie Innovationszyklen und reduzieren kostspielige Fehlentwicklungen.

Diese Veränderungen verlangen Mut zum Neuen und sind anstrengend. Oder wie es der Business-Autor Ash Maurya kürzlich formulierte:

„Adopting anything new takes effort. It requires us to go from being experts in the old way (the familiar) to becoming beginners in the new way (the uncertain).“

Die Alternative dazu ist die digitale Realität weiterhin bequem in eine undefinierte Zukunft zu verschieben, sie den kalifornischen und – immer mehr – chinesischen Profis zu überlassen und damit den zunehmenden Verlust von Wertschöpfung in unseren Unternehmen zu akzeptieren.

(Wenn Sie das für Ihr Geschäft nicht akzeptieren wollen, freuen wir uns über die Kontaktaufnahme.)